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Leben im Lepradorf

„Leben im Lepradorf“ ist der Titel meines Bildbandes. Lepradorf? Gibt es das überhaupt noch im 21. Jahrhundert? Ja, dieses Dorf mit dem Namen M’balling befindet sich 84 km entfernt von Dakar, der Hauptstadt Senegals. Hier versuchen gesunde und kranke Menschen gemeinsam einem grausamen Alltag zu trotzen. Davon erzählt mein Buch. Von Menschen, die trotz prekärer Lebensumstände einen unbändigen Überlebenswillen an den Tag legen. Und lächeln! Die Kranken machen in diesem Dorf ein Drittel der Bewohner aus. Gestützt werden sie von den Fitten, die selbst in vielfältiger Weise in ihrem Dasein gebeutelt sind, etwa durch die sinkende Rentabilität, die ihr Boden jährlich abwirft. Denn die Wüste ist im Vormarsch. Sie frisst sich Jahr für Jahr um weitere zehn Kilometer vorwärts in Richtung Atlantik.

„Un Peuple, Un But, Une Foi“, „ein Volk, ein Ziel, ein Glaube“ ist der Wahlspruch in diesem westafrikanischen Land, das einst unter der Kontrolle Frankeichs stand. Doch bei all der Liebe, die die Menschen für ihr Senegal empfinden, treibt heute viele Junge der Fluchtgedanke weg. In Sehnsuchtsorte, wo sie sich ein Leben ohne Hunger, Instabilität und Unsicherheit erhoffen: Über die 1500 Kilometer lange Seeroute machen sie sich auf zu den Kanarischen Inseln, wobei ihr Motto lautet: „Barça ou Barsax“ -  „Barcelona oder die Hölle“. Diese Hölle, der sie entfliehen wollen, hat handfeste Gründe: Dürreperioden nehmen zu, weil die Niederschlagsmengen in den vergangenen Jahren stark gesunken sind. Die natürlichen Ressourcen sind stark ausgeplündert. Preisdumping und Überschussproduktion aus Amerika, Europa und China setzt einheimische Produzenten unter Druck. Ausländische Fangflotten fischen das Meer leer und zerstören mit Schleppnetzen auch Biotope am Meeresgrund. Die heimischen Fischer leiden dementsprechend. Sie müssen jetzt viele Meilen weit hinausfahren, sind bisweilen eine Woche lang weg von daheim -  und können trotzdem ihre Familien oft nur so recht und schlecht ernähren.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fotograf kehrt das Seelenleben der Leprakranken nach außen

Seit 2009 dokumentierte ich, Joachim Bergauer, das Leben in Senegal und vor allem im Lepradorf M’Balling. Was mir dabei an Gefühlen, an Menschlichkeit und Wärme entgegenschlug, kann ich kaum in Worte fassen. Ich erzähle es mit Bildern: zeige den Ausdruck der Verzweiflung von Lebenden an der Grenze zum Tod; zeige aber auch den Funken Hoffnung, der in ihren Augen aufblitzt; mache die unwerfende Nächstenliebe durch ihre liebevollen Gesten sichtbar. Die Erfahrungen in Senegal haben mich enorm bereichert. Zurückkehrend, war ich nie wieder der Alte, geprägt von unserer so selbstverständlichen Wohlstandsgesellschaft. Sondern jedesmal ein bisschen bescheidener – vielleicht auch glücklicher. 

Was ist nun dieses Lepra, das uns schon gedanklich erschaudern lässt? Es ist eine jener Krankheiten, die es seit Jahrtausenden gibt. Man spürt sie nicht, doch sie breitet sich mehr und mehr im Körper aus. Dies als Folge mangelnder Hygiene, Unterernährung und einem geschwächten Immunsystem. Nervenzellen und Schleimhäute werden zerstört. Ohne Behandlung bleiben Verstümmelungen und Behinderungen zurück.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Umgang mit Lepra in M’balling ist ein ganz natürlicher, möchte man fast sagen. Den Bewohnern scheinen die leprösen Mitmenschen mit ihren verunstalteten Gliedmaßen jedenfalls genauso vertraut wie die schönen Frauen der Kommune in ihren bunten Gewändern. Beide durfte ich in ihrer Würde abbilden. Dafür bin ich dankbar. Ich, der Fotograf, der nicht an einen Krisen- oder sonstigen Ort anreist, um gleich schießwütig drauflos zu fotografieren. So war das auch in M’Balling. Dort ließ ich mich zunächst ganz still und ohne Kamera auf mein neues Umfeld ein. Ich beobachtete und wurde beobachtet. Zuerst liefen die Kinder von mir weg, weil die meisten von ihnen noch nie einen Weißen gesehen hatten. Da wurde ich natürlich schnell zur Dorfattraktion. So musste ich die Menschen langsam an mich gewöhnen, indem ich eben nur da war. Doch Vertrauen ist hart erkämpft. Die ersten beiden Besuche machte ich zwar außerhalb, in der Region, Fotos, aber nicht im Dorf selbst. Dort aber spielte ich mit den Jugendlichen Fußball, denn ich wusste: Wer im Spiel akzeptiert wird, der wird es auch in der Gemeinschaft. Zur Kontaktaufnahme ist Fußball perfekt. Man hat ein gemeinsames Ziel. Man nötigt dem Gegner Respekt ab und bringt ihn vielleicht sogar zum Lachen. So wurde ich allmählich vom „Toubab“, dem herablassenden Begriff für „Weißer“, schlicht zum „Joachim“. Was für ein Triumph! Dies sollte für mich in Zukunft reiche, fotografische Früchte tragen!

Ich war von Anfang an fasziniert von diesem Land und seinen schönen, geschmeidigen Menschen. Die noch in staubgeschwängerter Luft, inmitten der chaotischen Verkehrsverhältnisse mit Autos und Pferdekarren, eine solche Eleganz ausstrahlen. Da stolzierten Frauen in ihren farbenprächtigen, maßgeschneiderten Kleidern durch Straßen, als gingen sie wie Stars auf roten Teppichen. Dabei erledigten sie nur alltäglich Besorgungen. Für sie scheint Leben ein bisschen wie ein Theater, indem sie verschiedene Rollen zu spielen haben. Die Rolle des armen Aschenputtels, ja, die müssen sie ertragen. Aber sie können immer wieder ausscheren aus dieser Figur, indem sie sich als wunderschöne Prinzessinnen verkleiden. 

95 % der Bevölkerung Senegals sind Muslime. Das machte sich schon um fünf Uhr morgens bemerkbar.  Da rüttelten mich die Gebete des Muezzin täglich aus dem Schlaf. Was auch sein Gutes hatte. Schließlich ist bekanntlich morgens und abends das beste Licht zum Fotografieren. Mit meiner Kamera schlurfte ich sodann tagein, tagaus über den sandigen Boden, immer auf der Suche nach Bildern, Motiven, Augenblicken, die besondere Gefühle auslösen, stimmig sind. Ich ließ mich mit den Menschen durch die Gassen treiben und kam dabei in eine beinahe meditative Stimmung. Dann saß ich oft stundenlang an einem Platz, um auf den richtigen Moment zu warten, auf das richtige Bild. Einmal baute ich mir ein kleines Tageslichtstudio in der Schneiderei des Dorfes auf und bat die Leprakranken, mich zu besuchen, um ein paar Fotos von ihnen zu machen. „Zwei oder drei werden schon kommen“, dachte ich. Was dann geschah, war schlichtwegs überwältigend: Fast hundert Leprakranke schauten zur Tür herein. Manche ohne Beine oder ohne Arme, manche blind. Alle hatten sie den anstrengenden Weg auf sich genommen, um von mir fotografiert zu werden. „Warum?“, fragt man sich. Ich glaube, sie hatten mich, den bleichgesichtigen Joachim, mittlerweile wirklich ins Herz geschlossen. Eine Familie übrigens besonders und hier vor allem die beiden Töchter. Awa, die ältere, die beim ersten Treffen zehn Jahre alt war, ist heute 19 und hübsch wie ein Topmodel. Dabei lebt sie mit ihren Geschwistern, Eltern, Tanten, Cousins und Cousinen – als mit 19 weiteren Personen – in einem 50 qm2 großen Haus, umgeben von Hühnern und einem sturen Esel. Strom gibt es nur manchmal, und das Wasser muss mit einem Kübel aus einem tiefen Brunnen gezogen werden. Nicht genug der kargen Verhältnisse, musste die Familie auch den Tod des kleinen Bruders verkraften. Man hatte teure Behandlungen für den Kranken nicht bezahlen können! Awa ist lebensfroh, trotz allem! Sie liebt ihre Familie, aber von manchen Traditionen will sie Abstand nehmen. Viele Kinder? „Nein, danke“, sagt sie. Sie lernte fleißig in der Schule, will jetzt eine gute Ausbildung machen und später dann einmal von ihrem Mann finanziell unabhängig sein. Wenn sie einmal heirate, wolle sie nur ein Kind, berichtete sie mir. Seit dem Kennenlernen durfte ich sie und ihre Schwester fotografisch über die Jahre begleiten. – Und so auch ihren sozialen Hintergrund beleuchten. Awa und ihre Familie sind Peulhs. Diese stammen aus einer senegalesischen Ethnie, die ursprünglich in Südäthiopien und im Sudan beheimatet war und als „Miethirten“ vom Nil an die Küste Senegals gewandert sind. Trotz ihres niedrigen Status sind die Peulh stolz. Sie haben ihre eigenen Riten und ihren Lebensrhythmus und vor allem: diesen besonderen Glanz in den Augen, der mich so faszinierte.  

Senegal und seine Bewohner beschenkten mich über die Jahre mit einem reichen Foto-Schatz quer durch das pralle Leben. Bilder zeigen etwa die mächtigen Baobab-Bäume, aus denen Abends die Fledermäuse aufsteigen. Auch bunte Holzboote, mit denen die Fischer aufs Meer hinausfahren. - Mit diesem hoffnungsschwangeren Ausdruck im Gesicht, doch noch Beute aus den beinahe leergefischten Gewässern zu holen. Fröhliches Kinderlachen, das Hämmern der Handwerker, die rhythmische Trommelmusik, der Gesang der Senegalesen in Feierstimmung – all dies, so hoffe ich, hört man aus meinen Bildern durch ihre Kraft und Lebendigkeit heraus. Die „Markt-Mamas“, die versuchen, ihre drei Tomaten und fünf Mandarinen zu verkaufen, sprechen durch ihre herzhafte Gestik ohnedies für sich. Das alles ist für mich Senegal. Besonders die freundlichen und stolzen Menschen, die dem Schicksal ihre Willensstärke entgegensetzen. Viele sehen Afrika nur als Land der Armut. Ich aber will mit meinen Bildern und meinem Buch einen vielschichtigen, lebensfrohen Kontinent vermitteln. Und ich will die Neugier des Betrachters für dieses spannende Land wecken. Senegal ist für mich zur zweiten Heimat geworden. Aus einem ursprünglich angedachten Besuch wurden neun – und ein Buch. 

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